Ein grosser roter Pickup hält plötzlich neben uns an. Das Fenster wird runtergedreht, wir werden von Eddy herzlich begrüsst und folgen wenig später seinem Auto über eine kleine Sandstrasse zum nahegelegenen Fussballfeld. Dieses Wochenende findet im Dorf Cruz de Huayllas das jährliche Fussball- und Basketballturnier statt. Hierfür kommen alle ehemaligen Dorfbewohner in ihre Heimat zurück. Die Autos reihen sich um das Fussballfeld, es werden kleine Essensstände aufgebaut, die Kinder rennen durch die Altiplano-Grasbüschel, Lamas weiden in der Ferne und eine grosse Fahne weht am Rande des sandigen Spielfeldes. Wir sind in Kürze dem Dorfpräsidenten, Eddy’s Verwandten und den Schiedsrichtern vorgestellt und sitzen auf der Zuschauerbank. Doch zum Zuschauen kommen wir gar nicht wirklich, sondern sind schnell in ein Gespräch über die Schweizer Banken, die fehlenden bolivianischen Raffinerien und die Evolutionstheorie verwickelt.
Eigentlich wollen wir heute noch deutlich weiter fahren, wir zögern kurz, sitzen schon wieder auf den Velos und kehren dann doch wieder um. Eddy hat uns eingeladen bei ihnen zu bleiben. Es ist gerade Mittagspause und wir entdecken ihn in einem Innenhof. Wieder geht es schnell und sehr herzlich und wir stehen gemeinsam mit seiner Verwandtschaft um einen riesigen Grill. Bevor wir fertig gestaunt haben, halten wir beide schon ein grosses Stück Lamafleisch in der Hand. Die Teller füllen sich mit verschiedenen Kartoffelsorten, Kohlsalat und Bohnen. Wir schwelgen im bolivianischen Barbecue und werden von all den Onkeln und Tanten immer wieder kulinarisch umsorgt. Die Stimmung ist ausgelassen; die Familie trifft sich so einmal im Jahr im ‘campo’. Den Nachmittag verbringen wir mit etwas Fussball schauen, den Kindern Englische und Deutsche Wörter erklären, vielen Gesprächen und schliesslich einer Siesta in Eddy’s Schlafzimmer, welches er uns unkompliziert zur Verfügung stellt. Und zur Siesta gehört nach ihm seine aktuelle Lieblings-DVD. So sitzen wir im Lehmhaus, schauen uns auf einem Computerbildschirm mit Surround-Sound eine russische Show mit 80er/90er-Musik an und schwelgen in Teenie-Erinnerungen. Sobald der Himmel dunkel ist und die Kälte in die Knochen kriecht, wird mitten im Innenhof ein Feuer entfacht. Nicht nur die Kinder haben ihre grosse Freude immer mehr Holz reinzuwerfen, sondern auch wir finden es ums Feuer so richtig gemütlich warm. Eli, Eddys Schwester, serviert heisse Suppe dazu. Mit grossem Interesse werden wir in jenste Gespräche über Schweizer Tiere, unsere Kultur, Holstein Kühe, den Sinn vom Reisen, die Unterschiede zwischen Stadt und Land oder das Finalspiel der Copa Americana verwickelt. Wir geniessen die Diskussionen, die über die ‘Standard’-Fragen (Von wo? Wohin? Preis des Velos?) hinaus gehen und tauchen so immer mehr ins Land ein. Die Köpfe voller Gespräche, die Bäuche voller Leckereien liegen wir später zufrieden und müde auf der Matratze in der Küche.Zusammen mit einem grossen Proviantsack zum Abschied und vielen herzlichen Umarmungen rollen wir aus dem Dorf. Die Gedanken schweifen noch ein paar Mal zurück zu dieser schönen Begegnung, der Herzlichkeit und Gastfreundschaft von Eddy und seiner ganzen Familie. Sonst hat weder die Strasse, noch die Landschaft oder das Wetter sehr viel zu bieten. Sand, Wellblech, karge steppenartige Natur und fast orkanartiger Wind begleiten uns. Wir nehmen es (gezwungenermassen) tranqui, ganz ruhig. Kurz nach dem Mittag zögern wir nicht lange, als wir einen einigermassen windgeschützten Zeltplatz in einer Kiesgrube am Strassenrand entdecken. Ein Sandsturm fegt zwar durch unser Zelt, aber im Innenzelt ist es ganz gemütlich.
Leider hat sich das frühe Aufstehen und das Losfahren um 7 Uhr mit dem ersten Tageslicht nicht wirklich gelohnt. Der Wind scheint die Morgen-Regel nicht zu kennen und stürmt uns eisig ins Gesicht.
Wir kommen langsam voran, kreuzen immer wieder Lama- und Alpakaherden, zwischendurch passieren wir ein Dörfli. Und da thront er plötzlich vor uns: der eindrückliche Vulkan Sajama – höchster Berg Boliviens. Bis jetzt war er entweder in Wolken oder im Sandsturm versteckt. Jetzt sehen wir unser Ziel deutlich vor uns und kommen ihm immer etwas näher. Auf dem Weg dort hin gilt es noch einen Fluss zu durchqueren, was uns gut, wenn auch mit gefrorenen Füssen gelingt.Etwas schwieriger gestaltet sich die Suche nach dem nächsten Nachtlager. Im von uns angesteuerten Dorf Macaya fahren nicht nur wir sturmbedingt Schlangenlinien, sondern auch die Dorfbewohner haben ihre Mühe gerade zu gehen – ein Dorffest sei dank. Wir wollen schon fast aufgeben und fühlen uns in der stark angeheiterten Gesellschaft nicht so wirklich wohl, als wir beim Dorfausgang einmal mehr eine Barriere des Militärs passieren. Nach etwas Zögern holt der junge Soldat seinen Kommandanten. Mit Plättlispange im Gesicht werden wir herzlich begrüsst und deponieren wenig später alle unsere Sachen inmitten von bolivianischen Militärkarten in einem grossen Aufenthaltsraum. Wir bekommen Api serviert – ein heisses, ultrasüsses Getränk aus Maismehl, Zucker, Zimt, Zitrone – und sind vor allem glücklich, dass wir dem Sturm vorübergehend entkommen konnten.
Denn am nächsten Morgen wartet er schon wieder brav auf uns.
Eine sandige Steigung hats zwar nochmals in sich, doch vielleicht ist es das grandiose Panorama oder die Aussicht auf die asphaltierte Strasse, jedenfalls erreichen wir am frühen Nachmittag Tambo Quemado.Der Beschreibung als ‘pequena ciudad’ eines Dorfbewohners würden wir zwar nicht ganz zustimmen, aber in der Häuserzeile am bolivianischen Zoll gibts Restaurants, Lädelis und ein Hostel. Wir freuen uns über etwas Zivilisation und beschliessen Sturm- und Müdigkeitsbedingt hier zu bleiben, auch wenn das Zimmer eher einer Kühlschrank-Gruft gleicht. Und der Ort eher trostlos bis sehr trostlos ist. Leider kann man sich nicht alle Ruhetage aussuchen, so dass wir etwas fiebrig noch eine zweite Nacht ‘im Loch’ verbringen. Doch viel länger halten wir es nicht aus und bedauern all die Lastwagenfahrer, welche hier Tage auf die Zollabfertigung warten.
Wir hingegen nehmen etwas anderes in Angriff – ein Traum, ein ‘Gääg’. Der heisst, einmal quer durch Chile oder 4600 Meter runter ans Meer. Und wenn schon, denn schon, bitte in einem Tag. Weil dies von Tambo Quemado aus doch ein bisschen gar weit wäre, rollen wir gemütlich los. Es dauert gar nicht allzu lange und schon stehen wieder die vertrauten chilenischen Bauarbeitstafeln am Strassenrand ‘Obras que unen Chilenos’ mit entsprechendem Bild und Projektbeschrieb und fast noch bedeutender für uns, die von Hand gemalten 20-Meter-Täfeli. Sie führen uns alle 20 Meter vor Augen wie schnell oder langsam wir vorwärts kommen. Auch beim Zoll dauert es mal wieder etwas; immerhin kennen wir die Formulare langsam auswendig und wissen durch welche Scanmaschine alle unsere Gepäckstücke durch müssen. Dieses Mal geschieht alles ohne Hundegebell.
Und wir rollen bald dem Lago Chungara entlang und der Küste entgegen. Auch wenn die hier oben in der kargen Gesteinslandschaft und mit den Schneebedeckten Bergen noch sehr fern scheint. Im kleinen Dörfchen Parinacota werden wir mit einem super Hostal und einem noch leckereren Lama-Znacht von Don Leo überrascht. Gute Zeichen, dass wir morgen die lange Abfahrt gestärkt und ausgeruht starten können. Kleine Nebelchen liegen am nächsten Morgen über Parinacota – da haben wir mal wieder einen schönen Kältesee erwischt. Icebreaker, Windstopper, Gore-Tex: Trotz drei Handschuhschichten frieren die Finger fast ab. Alle Viertel Stunde müssen wir anhalten, um sie wach und warm zu schütteln. Doch die Schüttelpausen werden umrahmt von einem Werbeprospekt-Panorama, das wir erst auf der Passhöhe hinter uns lassen. Jetzt haben wir sie, die knapp 4500MüM! Und plötzlich flitzen die Distanztäfelchen nur so an uns vorbei. Durch einen engen Canyon, vorbei an skurilen Eisformationen von gefrorenen Bächen, entlang farbiger Gesteine düsen wir zuerst langsam, auf den Serpentinen immer schneller, in grüner werdende Landschaften. Ganz erstaunt erblicken wir die ersten Blumen am Wegrand, die Luft wird deutlich wärmer. Was für ein Wandel, den wir schon innerhalb der ersten tausend Höhenmetern beobachten. Bewässerte Terrassen säumen die Strasse in einem bewohnten Tal um Putre. Doch mit dem soll schnell fertig sein. Nun wird es immer trockener, das Gestein leuchtet rötlich, Kakteen stehen am Strassenrand und wir kriechen immer wieder einen so geliebten Gegenanstieg hinauf. Und das soll eine Weile so bleiben. Wir schlängeln uns der Cordillera entlang, in eine Flussrinne runter und wieder rauf. Doch der Höhenmeter stimmt uns optimistisch: Irgendwann müssen die weiteren knapp 4000 Höhenmeter kommen. Wir lassen uns überraschen. Nach dem Zmittag in einem Trucker-Restaurant ist es dann endlich soweit. Wir haben die äusserste Kante der Anden erreicht; vor uns breitet sich nicht nur die Atacama-Wüste aus, sondern auch ein starker erster Gebirgsabfall. Jetzt kanns so richtig losgehen, das Freiheitsgefühl ist unendlich. Wir lassen es rollen, düsen um die Kurven und bewundern die Wüstenlandschaft. Immer wieder überholen wir einen schnaubenden Lastwagen; die Chauffeure winken, hupen und machen Fotos von uns. Wir staunen über all die Waren, welche hier Lastwagen für Lastwagen vom Hafen ins Hochland transportiert werden: Autos, Papierrollen, Eisenstangen, Drahtrollen und viele Container zieren die Ladeflächen. Nach einem zweiten, von Serpentinen gesäumten Gebirgsabfall erblicken wir weit unten eine ganz grüne Talsohle. Was für ein Kontrast zur sandigen Umgebung! Plötzlich stehen Kühe am Strassenrand, Maisfelder zäumen den Weg und kleine Bewässerungsrinnen plätschern vor sich hin. Im Hintergrund thronen die hohen Schneeberge, dazwischen die steinig-sandige Wüstenlandschaft und da glitzert plötzlich das Meer vor uns in der Ferne. Die Strasse schlängelt sich zum Glück immer etwas abwärts in Richtung Pazifik. Die Meerluft bläst uns ins Gesicht. Wir wechseln uns alle fünf Kilometer mit dem Vorfahren ab; hinten im Windschatten fährt es sich deutlich einfacher. Die orangeleuchtende Sonne steht schon tief über dem Horizont, als wir auf der Strandstrasse einrollen. Was für eine Stimmung: Mit den hohen Wellen, dem ewiglangen Sandstrand, den Pelikanen und Surfern fühlen wir uns wie in einer anderen Welt. Die letzten Kilometer werden zur gefühlten Triumphfahrt. Zusammen mit Luz und Nicolas, die gerade auf dem Rückweg von einer Velotour sind und uns auf der Strandstrasse herzlich empfangen, rollen wir den Hochhäusern von Arica entgegen. Nach 185km schieben wir unsere Velos durch die Hostaltüre – was für ein gigantischer und verrückter Tag neigt sich dem Ende entgegen. Von dieser Abfahrt werden wir wohl noch ein paar Mal träumen.Die nächsten Tage geniessen wir Strand und Meer, Sonne und wärmere Temperaturen, leckeres Gelati und Sushi. Was für ein Kontrast sich in der Einkaufsstrasse Aricas im Vergleich zu den Dörfern der letzten Wochen bildet; wir brauchen gerade etwas Zeit um in dieser Welt wieder anzukommen.





























