29+49+365

Bermejo, Paso de Uspallata, Paso Los Libertadores, Christo Redentor; unsere nächste Herausforderung hat viele Namen. Das ändert allerdings nichts an der Tatsache, dass der höchste Punkt dieser Andenquerung von Los Andes in Chile nach Mendoza in Argentinien auf 3820 Meter über Meer liegt. Es ist die Hauptverbindungsachse für den Gütertransport über die Anden von Chile nach Argentinien, entsprechend stellen wir uns auf gotthardische Verhältnisse ein, was das Verkehrsaufkommen anbelangt. Bis Los Andes nehmen wir den Bus, Velofahren auf der Autobahn ist dann doch nicht so lustig. Und auch in Chile verboten. 

Es sei sehr!!! kalt an diesem Morgen, meinen die Hostal-Besitzer; wir finden, es ist noch angenehm kühl. Wir haben uns bereits so an die Patagonische Kälte gewöhnt, dass uns die Nachmittagstemperaturen von 25 Grad in diesen Breiten noch fast überfordern. Die Tage in Valparaiso haben gut getan, wir starten mit frischen Beinen am frühen Freitagmorgen in Los Andes, auf 800 Metern über Meer. Bereits nach wenigen Kilometern werden wir unmissverständlich darauf hingewiesen, dass die heutige Tagesetappe wahrscheinlich kein Selbstläufer werden wird. Das Tagesziel ist der Tunneleingang auf gut 3000 MüM. Doch es beginnt harmlos.  
Alright...

Alright…

 Die Strasse schlängelt sich im immer enger werdenden Tal gemächlich in die Höhe, noch sind die Trucks in den Steigungen deutlich schneller als wir. Auf der gegenüberliegenden Talseite kommt uns ein vollbeladener Minen-Zug entgegen, auf dem Trassé des einst legendären Transandino, der es in Punkto spektakulärer Landschaften und Streckenführungen locker mit Gotthard, Albula und Glacierexpress zusammen hätte aufnehmen können. Die ersten 35km bis Rio Blanco haben wir Ruck-Zuck hinter uns gebracht. Hier machen wir Mittagsrast und stärken uns für die zweite Hälfte unserer Tagesetappe. Das Höhenprofil macht hier einen unangenehm starken Knick nach oben. Bei den Höhenmetern haben wir nämlich noch längst nicht die Hälfte.  
Das Lawinenwarnschild erscheint im Moment etwas deplaciert

Das Lawinenwarnschild erscheint im Moment etwas deplaciert

 Die Strasse wird steiler, die schweren Trucks schnauben nun fast so stark wie wir. Immerhin haben sie noch Puste genug fürs Hupen und Winken, für psychologischen Support ist auf jedenfall von Truckerseite her gesorgt. “Viejo Aduana” ist der erste einer Serie von Grenzposten auf dieser Strecke, aber der einzige, wo wir ziemlich sicher sind, dass wir hier keine Formalitäten zu regeln haben, der Name ist Programm. An der Bezahlstation werden wir durchgewunken, Velos sind gratis. Ob die höheren Durchfahrtspreise am Wochenende der Grund sind, dass bereits am Freitag weniger los ist, wissen wir nicht. Der Verkehr hält sich auf jeden Fall in Grenzen; uns solls recht sein. 

Den grössten Teil der Distanz bis zum Tunneleingang haben wir bereits hinter uns, aber es fehlen noch knapp 1000 Höhenmeter. Plötzlich scheint es als seien wir im hintersten Punkt des Tales angekommen, umgeben von steilen Flanken. Und über eine dieser Flanken führt die Strasse in die Höhe, über 29 Serpentinen!
29 Serpentinen! Die Trucks und wir schnaufen

29 Serpentinen! Die Trucks und wir schnaufen

 Die Beine sind müde, die Luft bereits etwas dünner, und unsere Powergüetzi (ein Sandwich aus Bisquit und Dulce de Leche, wahlweise zwei- oder dreilagig und mit Schoggi umhüllt) das Rezept der Stunde. Zum Glück sind die Serpentinen nummeriert, und der langsame Fortschritt unmittelbar messbar. Nach einer Pause mit erneuter Zuckerzufuhr in Kurve 17 erreichen wir schliesslich Portillo, ein bekanntes Skigebiet in Chile, und zwei Kilometer später einen weiteren Grenzposten. Jetzt sind wir auf 3000 MüM und nur noch 6 km vom Tunnel entfernt, aber die Formalitäten wollen zuerst erledigt sein. Überzeugt, dass wir hier aus Chile ausreisen und deshalb unseren Pass abstempeln müssen, betreten wir das Zollgebäude und stellen uns in die erstbeste Schlange, “Schalter 1”. Der Beamte verweist uns freundlich auf den “Schalter 2”, von wo wir auf die gegenüberliegende Seite verwiesen werden, “Aduana”. Auch dort sind wir falsch, wir sollen zur Tür wo gross PDI angeschrieben steht, Policia de Investigationes, die schweren Jungs. Dort erhalten wir eine schriftliche Genehmigung, die wir bei der Barriere vorzeigen sollen. Wo diese Barriere ist, haben wir nicht ganz verstanden. Nachdem wir uns bei zwei weiteren Schaltern versichert haben, dass dies noch nicht der richtige Ort ist um unsere Pässe zu stempeln, fahren wir weiter Richtung Tunneleingang. Wir kommen allerdings nicht mehr weit und stellen unser Zelt kurz nach dem Zollgebäude neben der Strasse auf. Einmal mehr sind 500gr Ravioli im Nu weggeputzt und um 20:00 Uhr liegen wir bereits schlafbereit im Zelt.
Der nächste Morgen ist auch für unsere Begriffe kalt, das Trinkwasser zum Teil gefroren und der Abwasch folgt ganz dem Motto: Benetzen und Eis abkratzen.
Die lange Lawinengalerie vor dem Tunneleingang können wir zum Glück aussenrim umfahren

Die lange Lawinengalerie vor dem Tunneleingang können wir zum Glück aussenrim umfahren

 Auf dem Velo sind wir schnell aufgewärmt und erreichen nach kurzer Fahrt den Tunneleingang auf gut 3100MüM. Der gesamte motorisierte Verkehr verschwindet hier im Berg. Ab jetzt haben wir die Strasse für uns. Seit einigen Jahren ist die alte Passstrasse auch auf Chilenischer Seite wieder instand gestellt und eine richtige Passüberfahrt wieder möglich. Wir verlassen die geteerte Strasse und nehmen die Ripio-Serpentinen in Angriff.
Ein kleiner Teil der 49 Serpentinen

Ein kleiner Teil der 49 Serpentinen

 Wie viele es genau sind, wissen wir zum Glück nicht. Die Luft ist jetzt merklich dünner und wir schrauben uns mit 4-5km/h die Serpentinen hoch.
Spektakuläre Landschaften...

Spektakuläre Landschaften…

 Die Landschaft wird immer karger, die Aussicht immer spektakulärer, je höher wir kommen. Etwa alle 30 min machen wir Trinkpause, wir müssen uns etwas zwingen, das kalte Wasser zu trinken. Aber es hilft und wir haben keine Probleme mit der Höhe. Nach Kurve 45 und etwa drei Stunden Fahrt sehen wir die Passhöhe vor uns. Die restlichen vier Kurven gehen wieder locker von den Beinen und wir habens geschafft.
Wir habens geschafft!

Wir habens geschafft!

  Es ist ein wunderbares Gefühl, oben anzukommen. Die Aussicht auf die Berge und ins Tal sind überwältigend. Wir sehen den Aconcagua praktisch vor unserer Nase, der höchste Berg der Welt ausserhalb des Himalayas! Der Pass ist auch ein beliebtes Tagesausflugsziel für Touristen aus Mendoza und mit der Ruhe von vorhin ist es auf dem Pass schnell vorbei. Die Tagesgäste werden mit Minibussen auf den Pass gebracht, erhalten maximal 10 Minuten fürs Photo und sind bereits wieder auf dem Rückweg. Den schnellen Aufstieg vertragen die meisten offensichtlich nicht so gut. Immerhin bekommen wir eine heisse Schoggi auf dem Pass, ein angenehmer Nebeneffekt der touristischen Attraktivität des Passes.

 

Geniale Passabfahrt

Geniale Passabfahrt

 Für die Passabfahrt haben wir fast ebenso lange wie für den Aufstieg, fast in jeder Kurve machen wir Photostop. Weit unter uns sehen wir die Strasse wieder, und auch eine Barriere, die wir als Mautstation interpretieren. Unsere Schotterpiste biegt etwas weiter vorne wieder in die Hauptstrasse und wir messen der Barriere keine Bedeutung zu. Ab jetzt gehts in flottem Tempo weiter, die Strasse ist auf dieser Seite weniger steil und wir könnens ohne zu bremsen einfach rollen lassen. Nach 30km erreichen wir das nächste Grenzgebäude, eine eigentliche “drive-through” Passkontrolle. Wir sind jetzt bereits weit in argentinischem Hoheitsgebiet, aber immer noch nicht offiziell aus Chile ausgereist. Ob das gut geht? Zu unserem Erstauenen sitzen hier Chilenischer und Argentiniescher Grenzbeamte Seite an Seite im Kabäuschen. Der Chilene möchte unsere Genehmigung sehen. Wir strecken ihm den Zettel hin, den wir am Vortag erhalten haben. Das scheint aber nicht der Richtige zu sein, mit den Händen formt er in der Luft einen kleineren Zettel, den wir offensichtlich an der Barriere im Austausch für den grossen hätten erhalten sollen. Wir erklären, dass wir mit dem Velo unterwegs sind, über den Pass gefahren und demzufolge die Barriere nicht passiert haben. Der chilenische Grenzbeamte taut langsam auf, ist aber immer noch etwas hilflos ob des fehlenden Papiers. Der Argentinier an seiner Seite aber scheint das Problem zu kennen, besorgt sich ein Stück Ausschusspapier und knallt die nötigen Stempel drauf. Jetzt ist auch der Chilene zufrieden, er kann ebenfalls seinen Stempel auf den Fresszettel hauen und ebenso in unsere Pässe und wir sind ehe wir es uns versehen aus Chile aus- und in Argentinien eingereist. Den Fresszettel mit vier Stempeln behalten wir mal noch, wer weiss ob uns der nicht auch noch nützlich sein kann. 10 Minuten später sind wir in Puente del Inca, und beschliessen, hier zu übernachten. Wir finden Unterschlupf im alten Bahnhof des Transandino, der zu einer Art SAC-Hütte umfunktioniert wurde und als Ausgangspunkt für Besteigungen des Aconcagua dient.  
In Puente del Inca - benannt nach einer natürlichen Steinbrücke - geniessen wir unser Feierabendbier

In Puente del Inca – benannt nach einer natürlichen Steinbrücke – geniessen wir unser Feierabendbier

 Mit der untergehenden Sonne verschwinden auch die Touri-Busse und wir können unser Feierabendbier in Ruhe geniessen und die Eindrücke des Tages nochmals Revue passieren lassen. Die Betten in unserer Herberge haben ihre besten Zeiten schon lange hinter sich, aber wir sind müde genug und schlafen trotzdem wie Babies.
Die Strasse geht am nächsten Tag weiter, wie sie am Vortag aufgehört hat. Dank dem leichten Gefälle können wirs einfach rollen lassen und die wunderschöne, einsame Landschaft geniessen. Nach etwa einer Stunde werden wir abermals von einem Grenzpolizisten angehalten, der fünfte Grenzposten mittlerweile. Er verlangt nach einem kleinen Papier, wir strecken ihm etwas unsicher den Fresszettel hin, den der Argentinische Grenzbeamte am Vortag gebastelt hat. Die Stempelsammlung scheint ihn zufrieden zu stellen und wir dürfen passieren.  
Auch wenn wir heute mehrheitlich runter rollen können, die letzten Tage waren anstrengend

Auch wenn wir heute mehrheitlich runter rollen können, die letzten Tage waren anstrengend

 Die 74km bis Uspallata, dem nächsten Dorf, bringen wir im Nu hinter uns und sind bereits am frühen Nachmittag dort. Wir geniessen eine Ladung frisch gemachter Empanadas zum Zmittag und eine Flasche ‘Andes’, dem lokalen Bier von Mendoza. Wir übernachten auf dem grossen Zeltplatz, einmal mehr im gelben Laub der Pappeln; wir haben den Herbst wieder eingeholt. Trotzdem und trotz der Höhe von immer noch knapp 2000 Metern ist es unsere wärmste Zeltnacht bis jetzt.
Das letzte Stück von Uspallata nach Mendoza gibts in zwei Varianten, einmal entlang der geteerten Hauptstrasse, mehr oder weniger flach und mit viel Verkehr. Oder nochmals über einen Pass, knapp 3000 Meter hoch, auf Ripio, dafür ohne Verkehr. Wir entscheiden uns für letzteres und starten früh am nächsten Morgen; wir haben unsere bisher längste Etappe vor uns.  
Wir lassen den Andenhauptkamm hinter uns und fahren auf den nächsten Pass zu

Wir lassen den Andenhauptkamm hinter uns und fahren auf den nächsten Pass zu

 Wir versichern uns mehrmals, dass wir auf der richtigen Strasse sind, denn angeschrieben ist nichts. Und nachdem wir die letzten Häuser des Dorfes hinter uns gelassen haben, sind wir sofort wieder im Niemandsland. Hinter uns sehen wir den Anden-Hauptkamm mit Aconcagua und anderen Schneebedeckten Gipfeln, vor uns sind sozusagen die Voralpen. Die Strasse war vor einigen Jahren Strasse des Jahres in Argentinien, angeblich soll sie 365 Kurven haben. Wir beginnen gar nicht erst zu zählen, aber zumindest auf dieser Seite dünkt sie uns noch ziemlich gerade, mit angenehmer Steigung. Das Pass-Feeling von Vorgestern will sich noch nicht so recht einstellen. Nach gut drei Stunden haben wir die 30km und gut 1000 Höhenmeter hinter uns gebracht und erreichen den höchsten Punkt (2980 MüM) auf einer Art Hochebene. Ab jetzt gehts mehr als 2000 Meter runter bis Mendoza, ohne einen einzigen Gegenanstieg!  
Die 2000-Meter Abfahrt ist absolut spektakulär!

Die 2000-Meter Abfahrt ist absolut spektakulär!

 Am Ende der Hochebene stockt uns fast der Atem. Weit unter uns liegt das Tal und in der Ferne im Dunst irgendwo Mendoza. Die Strasse schlängelt sich über unzählige Kurven langsam die zerklüfteten, wolkenverhangenen Bergflanken runter; wir ahnen, dass die 365 Kurven vielleicht doch stimmen könnten. Unsere Bremsen und Handgelenke werden gefordert, auf der holprigen Strasse sind wir konstant am Bremsen. Wir flitzen Kurve um Kurve den Berg runter, so macht Passfahren Spass. Wir sind schon fast unten angelangt, als die Strasse auf Asphalt wechselt. Ab jetzt gehts rasanter den Berg runter, Bremsen und Handgelenke können etwas ausruhen. Dafür sind bald die Beine wieder gefordert. Die letzten 30 Kilometer bis Mendoza sind flach, wir haben leichten Gegenwind.  

20km schnurgeradeaus

 Die Strasse ist idealtypisches Fahrschulgelände: über mehr als 20km (!) schnurgerade, flach und ohne Verkehr. Wir brausen in der Abendsonne Mendoza entgegen. Aus früheren Erfahrungen klüger geworden, stoppt Christoph in der erstbesten Bäckerei in einem der Vororte, die Batterien werden für die Einfahrt in die Stadt und die Hostalsuche nochmals etwas aufgeladen. Wir kämpfen uns zur Rush-Hour durch den dichten und hektischen Verkehr in die Innenstadt vor und schnappen uns noch das letzte freie Doppelzimmer im Hostel Malbec. Nach 108km und gut 1000 Höhenmetern sind wir ziemlich hungrig und mögen nicht lange nach guten Restaurants suchen. Wir setzen uns in eins der Tourirestaurants in der Fussgängerzone und bestellen eine der günstigen Promoaktionen. Unvermittelt steht ein Bettler an unserem Tisch und verlangt nach Brot aus unserem Brotkorb. Und als wir nicht gleich antworten, bedient er sich und will sich gleich auch noch bei Corinnes Pommes-Frites bedienen, woran ihn dann aber ein resolutes No! hindert, und er wieder verschwindet. Welch ein Kontrast zu den vergangenen vier Tagen, wir sind auf allen Ebenen definitiv in der Grossstadt angekommen.

One thought on “29+49+365

  1. Ihr überrascht uns von Neuem mit einem Leistungsrekord – und was für Bilder! Wär gerne als blinder (?) Passagier auf dem Gepäckträger hintendrauf….was für eine fantastische Landschaft….
    Wir freuen uns mit euch und auch auf weitere spannende Berichte. Alles Liebe ma und pa

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